AW: Warenshof Kernwaffenlager GSSD
Teil 2
Daß eine solche Analyse erstmalig 31 Jahre nach dem Abschluß des Abkommens erfolgte, spricht Bände und weist ziemlich eindeutig auf eine der wesentlichen Ursachen für den zum Teil großen Unterschied zwischen Theorie und Praxis des Abkommens hin die Scheu der obersten SED- und Staatsführung, Abweichungen oder offene Probleme unverzüglich aufzugreifen und auf oberster Ebene direkt zu einer Klärung zu bringen. Sicher wirkten darauf mehrere Faktoren ein, auch solche, die nicht von vornherein negativ zu werten wären, wie etwa der ehrliche Respekt vor den Leistungen der UdSSR als Befreier vom Faschismus und die Anerkennung der führenden Rolle der Sowjetunion im Bündnis, wenn auch propagandistisch schon allein verbal oft übertrieben. Zweifellos spielten dafür aber vor allem Realitäten eine Rolle, die erst beim und nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus” im vollen Umfange sichtbar wurden. Dazu gehört die trotz aller Betonung der Souveränität der DDR tatsächlich gegebene Abhängigkeit von Moskau. Von Moskau hing nicht nur die Existenz der DDR als Staat ab, sondern auch der Verbleib der jeweiligen Parteiführung bzw. ihres ersten Mannes im Amt. Die oberste DDR-Führung wußte nur zu gut um diese Abhängigkeit und hat dies augenscheinlich bei Reibungsflächen mit der sowjetischen Führung in Rechnung gestellt. Sie kämpfte um eigene Positionen nur solange und soviel, daß ihrer eigenen Position beim „großen Bruder” dadurch kein irreparabler Schaden entstand. Umgekehrt belegte plötzlicher Wechsel in der obersten Führung die unausweichlichen Folgen der Mißachtung dieser Regel. Daher muß man offensichtlich bei der Ursachenfindung noch tiefer loten - bis auf Wesenszüge des damaligen stalinistischen Sozialismusmodells mit seinem Demokratiedefizit auf allen Gebieten und dem zunehmenden Realitätsverlust bei einem Großteil der obersten politischen Führung. Man darf aber auch solche Fragen wie persönlichen Mut und persönliche Konsequenz nicht außer acht lassen. Tatsächlich muß aus heutiger Sicht und zugleich aus Kenntnis der damals sonst üblichen Praxis schon verwundern, daß das SED-Politbüro der Unterzeichnung des Stationierungsabkommens und dem Abschluß eines Briefwechsels zu den genannten Fragen durch einen Beschluß vom 12. März 1957 lediglich zustimmte, (1) ohne durchgängig Festlegungen über die Umsetzung und Durchführung dieses Abkommens sowie über die Kontrolle darüber zu treffen - schließlich mußten die in den Verträgen enthaltenen Grundsätze möglichst umgehend durch Vereinbarungen bzw. Sonderabkommen der zentralen Staatsorgane der DDR mit der GSSD auf der Grundlage der Rechtsvorschriften der DDR sowie durch innerdienstliche Bestimmungen untersetzt werden.
Begonnen worden ist damit relativ rasch – und zwar mit der schon genannten Vereinbarung vom Dezember 1957 über das Verfahren zur Regelung von materiellen Schadenersatzansprüchen. Nach jetzt vorhandenen Übersichten folgte relativ dicht noch am 26. November 1958 ein zwischen den Regierungen der DDR und UdSSR abgeschlossenes Protokoll über das Verfahren bei der Bereitstellung von Mark der DDR und deren Erstattung in transferablen Rubeln, in den 80er Jahren dann hinsichtlich des Umrechnungsverhältnisses mehrfach präzisiert. (2) Doch dann traten beträchtliche zeitliche Lücken ein - die Mehrheit der nachweisbaren ca. 50 Dokumente entstammt erst der zweiten Hälfte der 70er und der ersten Hälfte der 80er Jahre. Daraus ist ersichtlich, daß lange Zeit in vielen Fragen einheitliche zentrale und verbindliche Regelungen fehlten. Zwangsläufig ergab sich hieraus, daß dann auf kommunaler Ebene bzw. in den Betrieben jeweils Einzelentscheidungen getroffen werden mußten - nach den jeweiligen subjektiven Sichten vor Ort natürlich oft sehr unterschiedlich. Dabei ist zu berücksichtigen, daß dort wie schon gesagt, ein Teil der als Verschlußsache eingestuften vertraglichen Grundsatzvereinbarungen gar nicht bekannt war. Doch damit war lange Zeit und nicht selten die exakte Einhaltung der abgeschlossenen bilateralen Verträge im täglichen Leben schon vom Ansatz her unmöglich. Allerdings gab es doch noch einen zusätzlichen Beschluß direkt auf jener Politbüro Sitzung vom 12.März 1957: Der zuständige Staatssekretär im Ministerium der Finanzen wurde beauftragt, dem Politbüro einen Bericht über die Höhe der damaligen Erstattungskosten für den Unterhalt der sowjetischen Streitkräfte vorzulegen. Sicher ist nicht uninteressant, welche Belastungen sich damals auf diesem Gebiet für die Volkswirtschaft der DDR ergaben. Neben den schon auf 50 Prozent herabgesetzten anteiligen Stationierungskosten von 800
Millionen Mark (3) wurden im Jahre 1957 seitens der DDR noch zusätzliche Kosten in Höhe von ca. 199 Millionen Mark getragen.
Diese setzten sich wie folgt zusammen:
- 120 Millionen Mark als größter Posten für Bauvorhaben und laufende Instandsetzungen
der Kasernen und Wohnungen,
- 23 Millionen Mark als Miet- und Pachtzahlungen für durch die GSSD in Anspruch
genommene private und volkseigene Grundstücke,
- 8 Millionen Mark für die Wiederherrichtung zurückgegebener Objekte,
- 2,3 Millionen Mark an Entschädigungsleistungen für Kfz.- und andere Unfälle,
- 5,7 Millionen Mark für Manöverschäden und Sonstiges,
- 22 Millionen zum Ausgleich der Differenzen für Waren und Materialien zum
Industrieabgabepreis sowie
- 18 Millionen für sonstige Preisausgleiche und Tarifvergünstigungen bei Eisenbahn
und Post.
Das war also zeitlich vor dem Abkommen fixiert worden. Entsprechend der durch das Stationierungsabkommen neu entstandenen Lage wurde hierzu nunmehr durch das
Politbüro am 2. April 1957 beschlossen, daß die Bau-, Instandsetzungs- und Wiederherrichtungsmaßnahmen aus den Mark-Beträgen zu finanzieren seien, die die
sowjetische Seite im Tausch gegen Rubel erwarb, und daß die genannten Preisausgleiche künftig wegzufallen haben - die Regelungen dazu sollten gemäß Artikel 15 des Stationierungsabkommens im noch abzuschließenden Sonderabkommen (Inanspruchnahmeabkommen) getroffen werden. Außerdem hielt der Beschluß fest, daß Entschädigungsleistungen für Kfz.- und andere Unfälle sowie für Manöverschäden für die DDR-Seite künftig nicht mehr anfallen würden, da diese entsprechend Artikel 11 des Stationierungsabkommens durch die sowjetische Seite zu tragen seien. Gleichermaßen wurde darauf verwiesen, daß Lieferungen und Leistungen an die sowjetischen Streitkräfte in Zukunft zu den gleichen Bedingungen zu erfolgen hätten wie an die NVA der DDR. (4)
Es sollte sich jedoch bald herausstellen, daß es keinesfalls so leicht und selbstverständlich war, die Probleme - wie hier erwartungsmäßig formuliert - nach dem Geist und Buchstaben des Stationierungsabkommens zu lösen. Doch auch darauf war man ja eigentlich vorbereitet - schließlich sollte gemäß Artikel 19 des Stationierungsabkommens zur Regelung von mit der Auslegung und Anwendung des Abkommens zusammenhängenden Fragen eine „Gemischte deutsch-sowjetische Kommission" gebildet werden. Für ihre Arbeit hatte sie sich das schon kurz erwähnte Statut zu geben. Dieses „Statut der Gemischten deutsch-sowjetischen Kommission" (5) wurde am 7. Dezember 1957 gemeinsam verabschiedet. Es präzisierte die Zuständigkeit der Kommission für die Beratung und Entscheidung von:
- Fragen, die mit der Auslegung und Anwendung des Stationierungsabkommens
verbunden sind;
- Ansprüchen auf Ersatz materiellen Schadens, der den Institutionen und Bürgern der DDR oder dritter Staaten durch Handlungen oder Unterlassungen sowjetischer
Truppeneinheiten und ihnen angehörender Einzelpersonen bei der Ausübung dienstlicher Obliegenheiten zugefügt wurde;
- Ansprüchen auf den Ersatz materiellen Schadens, der sowjetischen Streitkräften, ihren Angehörigen oder deren Familienangehörigen durch Handlungen oder
Unterlassungen der Institutionen oder Bürger der DDR entstanden ist;
- Streitfragen, die aus Verpflichtungen sowjetischer Truppeneinheiten entstehen konnten und von
- Streitfragen, die aus Verpflichtungen staatlicher Institutionen oder Bürger der DDR entstehen konnten.
Die schon im Stationierungsvertrag fixierte Zusammensetzung aus je drei Vertretern wurde dahingehend erweitert, daß jede Seite noch Berater und Übersetzer hinzuziehen durfte.
Davon ausgehend setzte sich die Kommission wie folgt zusammen: (6)
Seitens der DDR - der Staatssekretär und Erste Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten;
- der Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung
und Chef der Rückwärtigen Dienste der NVA;
- der Stellvertreter des Ministers der Finanzen und
- ein Vertreter des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten
als Sekretär.
Seitens der UdSSR - der Botschafter der UdSSR in der DDR,
- der Oberkommandierende der GSSD und
- ein Gesandter der sowjetischen Botschaft als Sekretär.
Die Gemischte deutsch-sowjetische Kommission tagte mit jeweils wechselndem Vorsitz entweder im DDR-Außenministerium oder in der sowjetischen Botschaft in Berlin. Von 1957 bis 1987, also innerhalb von 30 Jahren, fanden aber lediglich 44 Sitzungen statt. (7) Das ist sehr wenig, wenn man das mit dem Aufgabenkreis der Kommission vergleicht und mit der ursprünglichen Festlegung des Statuts, daß die Sitzungen „mindestens einmal innerhalb von drei Monaten" (8) durchgeführt werden sollten. Dieser Passus ist in der Quelle aber handschriftlich in Klammern gesetzt und durch „jährlich" ersetzt worden mit dem Vermerk: „geändert in der 26. Sitzung am 18. 3. 1970". Im Unterschied zu der für den Nationalen Verteidigungsrat sehr gestrafften Vorlage machte die 1988er-Analyse in ihrer umfangreicheren Originalfassung diese Veränderungen in der Tätigkeit der „Gemischten deutsch-sowjetischen Kommission"